PARRES 52

Das Projekt, entstanden aus der Ohnmacht angesichts der US-Invasion im Irak, heisst Parres52. In ihm werden 52 Kunstobjekte den hier präsentierten Texten gegenübergestellt. Jeweils 13 der insgesamt 52 Texte entstehen im Distrito Federal (Hauptstadt Zentrum), in der Zona Metropolitana (Hauptstadt Randzone), auf dem Land (erster und letzter Beitrag aus Parres) und im Ausland. Die Zahlenkombination 4 x 13 ist als eine Entsprechung zur Entstehung der Welt aus Aztekensicht zu verstehen und wird als symbolische Struktur eines anderen Weltverständnisses verwendet. Bei Parres52 handelt es sich nicht um weitere Berichte aus aktuellen Krisengebieten, ebensowenig um eine neue Analyse über Krieg und seine Folgen. Es geht darin vornehmlich um die allgemeine Untersuchung von den Lebensbedingungen der Menschen im 21. Jahrhundert. Mit dem Kriegsbeginn am 20. März 2002 wird in den während eines Jahres wöchentlich erscheinenden Texten der Frage nach Lebensqualität nachgegangen. Die Texte entstehen vor dem Hintergrund sogenannter 'Nicht-Orte', ohne dabei der Definition von Marc Auge exakt zu entsprechen. Bei Parres52 handelt es sich um Plätze oder Situationen, denen man unter allen Umständen aus dem Weg gehen würde, wenn man es könnte. Man vermutet dort alles, nur keine Lebensqualität... (im blog gekürzte Textfassungen)

Parres



1.Parres, 26. 03.
(alle Texte in gekürzter Fassung, copyright by Holger Roick)


Vor sechs Wochen habe ich zum ersten Mal die Möglichkeit bedacht. Heute ist daraus nun Wirklichkeit geworden.
Früh morgens mache ich mich auf den Weg zu meinem ersten ‚Einsatzort’. Nach jetzt knapp einwöchigen Attacken der USA gegen den Irak, sehr weit entfernt von hier und doch so nah, habe ich das Gefühl, selbst ein Kriegsberichterstatter zu sein. Gegen acht Uhr in der Frühe erreiche ich ein noch weitgehend schlafendes Parres. Vor mir, schon seit etlichen Kilometern, fahren zwei schwere Armeelastwagen, die Pritsche vollbesetzt mit scherzenden, bewaffneten Soldaten. „Fahrschule“ steht hinten auf grossen gelben Schildern geschrieben. Trotzdem verstärken sie weiter meinen Eindruck, ein Krisengebiet zu betreten.

Ich bin jetzt ein wenig aufgeregt. Ein kalter Wind bläst hier oben, wie fast immer. Trotz strahlendem Sonnenschein und dem würzigen Aroma von offenen Feuern, wie es hier typisch auf dem Lande ist und wie ich es so gerne mag, erfüllt sich eine insgeheim von mir gehegte Hoffnung nicht: wissend, dass mein grässlicher Eindruck von Parres auf vorherigen Durchfahrten immer nur oberflächlich gewesen war, erhoffe ich mir heute, mit der ernsten Absicht den Ort nun wirklich einmal gründlich zu inspizieren, ihn vielleicht doch etwas einladender zu empfinden. Leider warte ich vergebens auf so eine radikale Veränderung. Langsam fahre ich die Hauptstrasse entlang, ohne auf die mir sonst bekannte Hässlichkeit des Kaffs zu achten, sondern dieses Mal nur auf die wenigen Menschen, die so früh zu sehen sind. Parres wird, wenn man in die Gesichter schaut, in Wirklichkeit noch viel schrecklicher, als ich angenommen hatte. Keine Neugierde ist in den düsteren Mienen zu entdecken, die mich anstarren, nicht zu denken an einen Gruss. Aus finsteren Augen mustern mich misstrauische Blicke von Menschen in dreckigen und zerlumpten Kleidern. Ich erinnere mich daran, wie mir sonst immer davor gegraut hatte, hier einmal eine Autopanne zu haben. Nie wollte ich hier gezwungenermassen feststecken müssen, und nun habe ich mich sogar freiwillig hierherbegeben, um dieses Nest zu erkunden. Für den Moment vergeht mir jede Lust dazu. Am liebsten würde ich gleich wieder umdrehen. Ich fahre bis zum Ortsausgang und überlege, was ich tun kann. Von hier aus führt die letzte Strasse am südlichen Ortsrand den Hügel hinauf, auf dem der grösste Teil von Parres gebaut ist. Am Ende dieser Strasse steht auf dem höchsten Punkt und von weitem gut sichtbar, ein sehr neues, hohes und so gar nicht hierher passendes Gebäude. Dahin zieht es mich nun erstmal, zum einen, weil dieses Haus für mich im Moment so etwas wie ‚sicherheitsbietende Zivilisation’ in dieser ‚Wildnis’ bedeutet, zum anderen, weil es oben auf dem Berg steht, von wo aus ich einen besseren Überblick erhalten werde, auf Parres und auf meine fatale Lage.
Die Strasse endet hier und ich muss wenden. Hätte man an jeder Ecke der Stadt einen Begrenzungspfeiler in den Boden gerammt, wäre dieses Haus der süd-östliche davon, dahinter kommt dann nur noch Wald. Tatsächlich habe ich einen guten Ausblick von hier oben auf die eigentlich recht schöne Lage des Ortes, umgeben von dichtbewaldeten Hügeln. Plötzlich bedeutet mir der mit grünen Glasfronten versehene, prätentiöse Bau hinter mir gar nichts mehr und ich wünschte mir, er wäre fort.

Alles von Menschen gemachte erscheint mir mit einem Mal gleichsam bedrohlich, sei es ein ultramodernes Hochhaus im rauschenden Kiefernwald oder die unter Kabelwäldern chaotisch verstreuten Zementhütten.
Mich zieht es jetzt nur noch in den Wald, der mir hier als einzigster nicht wie ein Fremdkörper erscheint. Warum nicht als erstes direkt dorthin, zwischen die Bäume? Schliesslich gehört er doch auch zu Parres, oder etwa nicht? Ohne zu zögern flüchte ich mich hinein. Hier fühle ich mich gleich wieder ganz wohl. Breite, sandige Wege führen verschlungen noch weiter bergan. Keine Menschenseele ist hier weit und breit zu sehen, und seltsamerweise auch kein Zivilisationsmüll, obwohl ich die Menschensiedlung doch erst wenige Meter hinter mir gelassen habe. Nach einer Weile drehe ich trotzdem wieder um; zu schön ist es hier und ich bin aus einem anderen Grund hergekommen. Auf dem Rückweg finde ich einen kleinen, verdreckten Stoffwimpel. Innerlich so stolz wie ein Kind, das seinen grössten Schatz mit sich trägt, stecke ich ihn ein. Ich bin kein Kind mehr, mit diesem Akt bin ich zu einem postmodernen Anthropologen geworden. Und damit hat meine Arbeit begonnen! Es ist eine ungewohnte Arbeit, von der ich keine Ahnung hatte, wie sie anzufangen wäre. Nun weiss ich es. Mit neuem Mut begebe ich mich auf den Erkundungsgang.



Bewegt man sich von der Hauptstrasse fort, bemerkt man sogleich, dass man auf dem Lande ist. Fast keine Strasse ist hier geteert. Schwere Felsbrocken auf steilen und lehmigen Wegen machen es den Wagen, die Wasser oder Gas bringen, oftmals schwer, an die Häuser heranzukommen. Da erweist sich der Klappergaul, der unter dem Gewicht des Brennholzes, das er trägt schier zusammenzubrechen droht, als viel geeigneter.
Immer wieder schiessen unvermutet kleine Schafherden aus den Gassen hervor. Die frisch geschorenen Schafe sind alle mit einem grossen, dreckig-rotem Farbfleck auf dem Kopf gekennzeichnet und damit genauso hässlich, wie der ganze Ort, in den sie sogesehen äusserlich betrachtet wunderbar hineinpassen.
Ein Halbrund von aneinandergereihten kleinen Geschäften hat schon bessere Zeiten erlebt. Keines davon scheint noch in Betrieb zu sein. Die eisernen Rolltore sind entweder zerstört oder fehlen ganz. Wo man hineinschauen kann, sieht man hoch aufgestapelte Strohballen.
Eines der schönsten Häuser im ganzen Ort, weil es nicht unverputzt wie die anderern ist, sondern erst vor kurzem weiss gestrichen wurde und auch sonst einen sehr gepflegten Eindruck macht, ist ebenfalls mit Strohballen vollgestopft, wie man durch die groben und unpassend luxuriös getönten Fenster sehr gut erkennen kann.
Ein Hinweisschild der ‚Anonymen Neurotiker’ fällt mir ins Auge. Natürlich gibt es überall Neurotiker, aber in Parres scheint mir dies noch natürlicher zu sein.
In welcher Richtung auch immer man versucht, an den Ortsrand zu gelangen, immer wieder stösst man dabei schnell an einen Maschendrahtzaun, der den gesamten Ort zu umschliessen scheint. Dieser Zaun ist der Ortsrand. Die Schafe mögen der Grund dafür sein, zum Wäsche trocknen eignet er sich allemal ebenso, wie man sehen kann, aber beklemmend wirkt es dennoch.
Trotzdem aber auch: je länger ich durch den Ort streife, je höher die Sonne dort steht und die Plätze wärmt, so dass jetzt auch mehr Menschen hier anzutreffen sind, desto sicherer fühle ich mich. Und mit der gewichenen Angst beginne ich auch, mich etwas wohler zu fühlen, die Leute zu grüssen, die den Gruss lächelnd erwidern und mit offenem Blick mir freundlich den Weg weisen.
Im Wald hatte ich angenommen, die Arbeit bereits begonnen zu haben, aber erst jetzt nahm ich die Aufgabe, die auf mich wartete, wirklich an. Mit einem mal zweifle ich nicht mehr, eine notwendige Aufgabe zu erfüllen. Ich tue das einzig Richtige und Wichtige, was in diesen Zeiten für mich zu tun ist!
Die Neugierde der Kinder, die mir verstohlen hinterherschauen, tut gut. Sie zeigt, dass ich mich auf dem Planeten Erde befinde. Und sie stachelt mich an, über die eigene Neugierde nachzudenken: nach drei, vier Stunden sollte ein Ort wie Parres erkundet, das wesentliche absorbiert sein. Noch länger zu bleiben wäre morbid. Ich beschliesse deshalb, die Expedition für heute zu beenden. Ich bin sicher, meinem eigenen Vorurteil aufgesessen zu sein. Einmal von dieser Last befreit, verwandelt Parres sich, obwohl es dabei weiterhin so hässlich wie eh’ un je bleibt, vom ´Nichts’ in einen gefahrlosen Ort wie tausend andere. Man muss ihn deshalb nicht gleich mögen, man kann hier sein oder auch woanders, es bleibt sich gleich, aber man muss sicher keine Angst haben, dass einem hier eine Autopanne widerfahren könnte.

Aber als ob noch etwas fehlen würde, zieht es mich zum Abschluss doch noch einmal in den Wald zurück. Ich fahre deshalb ein Stück aus Parres heraus, um einen kleinen Berg herum und auf einem Feldweg wieder zurück in Richtung Parres. Nichts Bestimmtes führt mich auf diesen Weg ausser dem Wunsch, einen für das Schreiben geeigneten Platz im Wald zu finden. Und so komme ich nach Cima. Nicht etwa ‚La Cima’ (‚Der Gipfel’), sondern schlicht Cima, nur Gipfel also. Auf etwa 2500-3000m Höhe musste hier einmal eine Bahnstation gewesen sein. Das überall wuchernde Steppengras hat die alte Eisenbahnstrecke, oder besser die Holzschwellen, die davon noch übrig sind, noch nicht restlos verschlungen. Vom Bahnhofsgebäude stehen nur noch die Mauern, die Dachkonstruktion ist komplett in sie hineingebrochen. Was einmal ein gemauerter Wasserturm gewesen sein mag, trägt in grossen schwarzen Lettern den Namen CIMA. Auf einem noch existierenden Abstellgleis steht, in knallgelber Pracht, ein sicher hundert Jahre alter, erstaunlich gut erhaltener Reisewaggon. In den Fenstern hängen bunte Vorhänge und auf der überdachten Einstiegsplattform wachsen Blumen in Töpfen. Erst jetzt sehe ich auch das Blockhaus neben der Bahnhofsruine, etwas versteckt unter den Bäumen stehen. Sehr rustikal, klein aber fein, das Dach mit Solarzellen bepflastert. Auf einem Hügel daneben steht ein kleines silbernes Windrad und ganz in der Nähe davon entdecke ich dann, gut getarnt zwischen Kiefern, noch zwei ähnliche Häuser mit kleinen Gemüsegärten davor. Gipfel, der höchste Punkt, dem Himmel am nächsten, ist zweifellos eine winzige Aussteigersiedlung. Die Aussteiger selbst sind allerdings im Moment nicht anzutreffen. Ein ‚himmlisches’ Versteck mit einem grossen Hauch von (Western-) Nostalgie. Ich stehe auf den morschen Gleisschwellern und betrachtete mir dies kleine Paradies. Wenn ich so meinen Kopf nur ein kleines Stück weiter nach rechts drehe, kann ich in der Ferne das hässliche Parres sehen. Cima gehört zur Gemeinde Parres. Wie war es möglich, dass ich aufgebrochen war, das Hässlichste zu suchen und dabei das Schönste gefunden hatte? Nur ein kleiner, unbeabsichtigter und dazu noch zielloser Schritt zur Seite war nötig gewesen, mir einen vollkommen neuen Blickwinkel zu eröffnen, der mir zeigte, wie nahe beides beieinander lag.
Man kann sich streiten darüber, ob es sich bei Cima wirklich um ein Paradies handelt. Auch frage ich mich, ob es mir inzwischen nicht besser in Parres gefallen würde. Nun, das wohl kaum! Oder doch? Schliesslich ist diese konstruierte Romantik nicht weniger prätentiös als das Hochhaus im Wald… Aber Cima heute noch entdeckt zu haben, nachdem meine ‚Recherche’ doch eigentlich schon als abgeschlossen galt, ist eine paradiesische Erfahrung gewesen. In einem Paradies zu leben, ist nicht möglich, es für einen Bruchteil der Ewigkeit zu erleben dagegen schon. Und dieses Erleben hatte nichts mit dem Ort zu tun, sondern mit seiner Entdeckung! Ich hatte bereits gemerkt, wie wichtig es dafür war, möglichst vorurteilslos zu sein. Aber viel wichtiger noch war wahrscheinlich die Erfahrung, dass man mit der Neugier erst nachlassen darf, bis man plötzlich von ganz alleine bemerkt: „Das ist es jetzt!“ Es macht kurz ‚Klick’, man meint es zu hören, und dann schliesst sich wieder ein Kreis wie von selbst.

'La' Guerrero


2. 'Die' Guerrero, 01. 04.

(alle Texte in gekürzter Fassung, copyright by Holger Roick)



Die ´Colonia Guerrero´ gilt, neben wenigen anderen, als eine der gefährlichsten Gegenden der Stadt Mexico City. Gefährlich bedeutet soviel dass, wer hier ´nicht hingehört´, d.h. hier weder wohnt noch Freunde hat, ziemlich sicher mit Problemen rechnen kann.
Dies ist zumindest der Ruf, der ihr unfehlbar vorauseilt und ihrem Namen ´Guerrero´ damit alle Ehre macht. Ob der Stadtteil nun nach dem südlichen Bundesstaat benannt wurde oder nach seiner wörtlichen Bedeutung ´Krieger´, ist eigentlich nicht wichtig. Wer den Staat kennt weiss, dass er Synonym für Aufstand und Gewalt, also für permanente, kriegsähnliche Auseinandersetzungen ist. Ein ´Krieger´-Volk also, welches mit dieser Art so gar nicht in das Klischee des gleichgültigen Mexikaners passen will.

Auf jeden Fall ist klar: dem Wahrheitsgehalt dieser zweifelhaften Berühmtheit auf den Grund zu gehen, würde ich mir bei Nacht wohl kaum allein zutrauen. Auch nicht, obwohl die 'Colonia', wie andere Kolonien im übrigen auch, von allen liebevoll mit dem weiblichem Artikel „La“ Guerrero! benannt wird.
Nach einer etwas traumatischen Erfahrung in einem restlos überfüllten Metrowaggon, der mich an eine in Panik geratene und sich gegenseitig erdrückende Menschenhorde in Fussballstadien erinnerte, war ich jetzt allerdings froh, dort endlich wieder unter freiem Himmel zu sein.

Die ´Guerrero´ grenzt unmittelbar ans historische Stadtzentrum. Nur einen Steinwurf entfernt von den Prachtbauten wie etwa Correo Mayor, der Hauptpost oder dem marmornen Theater Bellas Artes befindet man sich schon mitten darin. Mittendrin ist nicht ganz richtig ausgedrückt, denn sie ist sehr gross und zeigt auf weiter Fläche ganz unterschiedliche Gesichter.
Zwei grosse Hauptverkehrsadern, Eje Central und Tacuba, rahmen sie im Osten und im Süden ein, der langgezogene Bahnhofskomplex der Hauptstadt und die gigantische Wohnanlage von Nonoálco Tlatelolco beschreiben ihre westliche, bzw. ihre nördliche Begrenzungslinie. Kommt man aus westlicher oder südlicher Richtung, was für einen Fremden die Regel ist, meint man in eine Sperrzone einzudringen. Die grossen Avenuen haben einen Effekt, ähnlich dem einer Mauer, hinter der eine andersartige Welt beginnt.
Hatte man gegenüber gerade noch den Palast der Schönen Künste bewundert oder war im erholsamen Alameda-Park unter grossen Eschen flaniert, ist es hier mit einem Schlag vorbei mit jeglicher Grandezza.
Mehr schlecht als recht halten sich die einfachen, zumeist zweistöckigen Gemäuer aus den Zeiten spanischer Herrschaft gerade noch aufrecht. Der Putz von diesen ehemals bunt gestrichenen Häusern bricht in grossen Platten vom dicken Mauerwerk. Die Dicke ist unschwer an den Stellen zu erkennen, wo die Steine ganz fehlen. Durch so ein Loch sieht man, dass die Innenräume im unteren Bereich oft nur noch als Lagerraum benutzt werden, während die obere Etage meist noch bewohnt ist. Fehlende Türen und Fenster sind durch davorgenagelte Balken oder Bretter gesichert.



Zwei Strassen weiter sieht es schon wieder ganz anders aus. Rund um den berühmten Tanzsaal Salón México, eine ausgediente Fabrik aus rotem Backstein, finden sich noch andere grosse und hohe Gebäude, die wahrscheinlich auch einmal als Fabriken gedient haben. Heute sind sie zu sogenannten ´vecindades’, Mehrfamilienkomplexe umfunktioniert.
Nach ein paar Schritten wandelt sich das Bild erneut: hier sind die zweigeschossigen Kolonialbauten alle recht gut erhalten, die Strassen sind dicht mit Bäumen bestanden und es herrscht reges Leben. Kleine Geschäfte und Restaurants, Garküchen, Obsthandlungen und verschiedene Werkstätten machen einen einladenden Eindruck.


Alles, was ich bisher gesehen habe, so unterschiedlich es gewesen sein mag, provoziert diverse Emotionen, nur eine nicht: sich fürchten zu müssen. Alles erinnert mich sehr stark an meinen ersten Aufenthalt in Mexiko-Stadt, vor beinahe zwanzig Jahren. Da schlenderte ich genauso ziellos und neugierig auf alles durch eben solche Strassen und Gassen. Eine Gegend, in der ich ohne zu zögern das erstbeste Hotel nahm und in der ich dann tagelang herumstrich, ohne bislang etwas vom historischen Zentrum gesehen zu haben. Selten zuvor hatte ich mich so wohl gefühlt wie in jenen Tagen. Ich wusste zwar, wie nahe ich dem eigentlichen Zentrum war, all’ den Sehenswürdigkeiten, die man gesehen haben ´musste´. Aber nichts zog mich vorläufig dorthin und ich verschob es jeden Tag auf’s Neue, das leichte Gefühl, etwas Einzigartiges zu erleben, weiter auskostend.

Plötzlich um zwanzig Jahre erleichtert, laufe ich beschwingt und aufgeregt weiter.


Zufällig komme ich durch die Calle Magnolia, wo einmal Freunde von mir wohnten. ´La Casa de los tres Patios´, das Haus der drei Innenhöfe, ist wegen seiner im Staate Michoacan beheimateten Bauweise stadtbekannt, die hier ansonsten nur selten zu finden ist. Aber auch wegen seiner prächtigen, bougambiliabewachsenen Innenhöfe. Ein Dokumentarfilm darüber half mit und selbstverständlich auch deren schillernde Bewohnerschaft: immer wieder wechselnde Künstler, die dort ihre Wohnung zum Atelier und ihr Atelier zur Wohnung machen.
Gerne würde ich kurz hineinschauen, um zu fotografieren. Das könnte zeigen, was für Perlen oft hinter schäbigsten Hofeinfahrten versteckt liegen. Aber ich kenne inzwischen niemanden mehr, den ich durch die Ritzen des verwitterten Holztores hindurch herbeirufen könnte, Klingeln gibt es hier nicht. Als ich wohl schon etwas zu lange an dem Eingang herumgeschnüffelt habe, wird ein Kerl auf der gegenüberliegenden Strassenseite auf mich aufmerksam und fragt, ob ich denn da rein möchte. Er nennt mir einen Namen, nach dem ich rufen soll und die Sache klappt. Ich murmele etwas von den Freunden, die hier einmal gewohnt haben und dann schliesst mir Margarito, so heisst der neue Mieter, das dreifach gesicherte Tor auf. Im ersten Hof arbeitet gerade eine Bildhauerin an einer Stahlskulptur. Im zweiten Hof hat Margarito nun seine Werkstatt, wo das Atelier meiner Freunde war. Im dritten sehe ich einen Maler. Und überall: wuchernde Pflanzenpracht und faule Katzen. Ich mache einige Fotos und verabschiede mich nach kurzem Gespräch wieder von Margarito. Es waren Neugierde und Nostalgie, die mich angelockt hatten, jetzt zieht es mich aber schon wieder auf die Strasse zurück. Ich mache noch ein abschliessendes Foto von aussen und dort steht der Kerl von vorher noch immer. Ich bedanke mich bei ihm für seinen guten Tipp. Nicht der Rede wert, meint er, aber meine kleine Kamera interessiert ihn. Solche Gegenstände erregen immer allzu grosse Aufmerksamkeit. Inzwischen bewege ich mich so sorglos, dass ich daran gar nicht mehr gedacht habe. Ich zeige ihm die neueste Errungenschaft del hombre blanco, verblüffende, winzigste Digitaltechnik, geb’ sie ihm in die Hand, lasse sie ihn ausprobieren. Unsere unbedeutsamen Spielzeuge, immer viel zu teuer erkaufter Fortschritt, denke ich. Eine feine Sache, stimmen wir überein. Er gibt mir die Kamera zurück und ich verabschiede mich.


Zwei Blocks weiter komme ich zur Metrostation Guerrero an der Calle Mosqueta. Ich bin jetzt ‚mittendrin’. Und hier verändert sich das Bild schliesslich ein weiteres Mal.
Das ist es wohl, wovor immer alle warnen: auf U-Bahnschächten, auf den breiten Trottoirs und in Pfützen liegende Penner. Ebenso auf dem Vorhof der Kirche, die gerade renoviert wird, im Bauschutt oder vor der Arena Coliseo, die jetzt noch geschlossen ist und wo am Abend starke Männer Lucha Libre vorführen. Nicht in versteckten Ecken also, sondern an den öffentlichen Plätzen. Man weiss es nicht, man kann es nur ahnen, wer von diesen Menschen heute abend vielleicht nicht mehr aufstehen wird. Niemand beachtet sie, es sind zu viele! Ihr Weg endet in der Gemeinschaftsgrube der Gerichtsmedizin.
Über einen dieser Männer oder Frauen, es ist schwer zu sagen, denn unter den Decken schauen immer nur die Füsse heraus, stolpere ich beinahe, direkt in die Arme eines höchstens zwölfjährigen. Der scheint hier im Schlafanzug umher zu wandeln, grinst mich mit verdrehten Augen an und torkelt weiter. In einer Hand hält er einen schweren, doppelklingigen Maurerhammer.
Gruppen scherzender, ziemlich heruntergekommener Jugendlicher überholen mich oder kommen mir entgegen. Das ist schlimmer und ich weiss nicht, ob ich ihnen besser ausweichen oder meinen Weg einfach direkt auf sie zu fortsetzen soll? Als sie ganz nah sind, kann ich trotzdem nicht verstehen, was sie belustigt reden, spüre aber, dass es um mich geht. In den Parks sitzen viele dieser jungen Männer alleine auf den Bänken, die Arbeitslosigkeit!
Plötzlich rempelt mich ein in Lumpen gehüllter Junge an, hat er Polio oder warum ist er so verkrampft? Er lacht mich an und schwallt mir etwas Unverständliches ins Gesicht. Ich will ihm schon etwas Geld zustecken, aber da ist er schon weiter. Es gibt hier keine Bettler.

Zwischen der breiten Strasse und dem Trottoir gibt es oftmals einen niedrig umzäunten, baumbestandenen Grünstreifen. Hierdrin häufen sich zwar Müllberge, die aber von den städtischen Reinigungskolonnen täglich neu ausgefegt werden. So kann man nicht sagen, dass der Anblick dessen, was notgedrungen zurückbleibt oder sich schon wieder neu angesammelt hat, besonders abstossend wäre.
In den Nebenstrassen wird ganz deutlich, wie die meisten Menschen hier leben. Es ist jetzt schon weit über Mittag und immer mehr Hofeinfahrten stehen nun offen. Die Höfe sind in der Regel lange Schläuche, die von links und rechts stehenden, mehrstöckigen Gebäuden gebildet werden. Zugang zu den Wohnungen bekommt man über eine Gemeinschaftstreppe, zumeist eine erst nachträglich eingebaute Metallkonstruktion, die sich in den oberen Etagen auf die zwei gegenüberliegenden Seiten verzweigt. Man wohnt zwar eng aufeinander, fühlt sich aber durch den Innenhof sicherlich nur wenig beengt.

Ein zur Strasse gelegenes Fenster im Erdgeschoss ist in ein gemaltes Wandbild integriert. Das fordert die lokalen Politiker auf, ihre Versprechungen auf preiswerten und würdevollen Wohnraum einzuhalten. Das Nachbarhaus mit einem Tor, auf das gross ein Metallschild geschweisst ist: ‚S B’, ist die Wohnung von SuperBarrio, dessen Gesicht niemand kennt, weil er es hinter der Maske eines ‚Luchadors’ versteckt hält, einer dieser Ringkämpfer, die das Volk so sehr liebt. SuperBarrio (Barrio = Stadtviertel) ist Führer einer einflussreichen Bürgerinitiative, die auf alle denkbaren Ungerechtigkeiten der Lokalpolitik sofort und wirkungsvoll reagiert, durch seine Taten inzwischen zu einem Held im Volk geworden, welches sich mit der Figur des Ringkämpfers sehr gut identifizieren kann. Ein glaubhafter, moderner Guerrero!


An der Calle Tacuba angekommen, bei der reichverzierten, eindrucksvollen Parroquia San Fernando auf dem gleichnamigen Platz, ‚spuckt’ mich die Guerrero schliesslich wieder aus. Auf ihrem weitläufigen Friedhof mit seinen prächtigen Mausoleen wohlhabender Familien des 19. Jahrhunderts wird es kaum einen Platz für die aktuellen Bewohner des Stadtviertels geben. Aber für die Zukunft ist zu hoffen, dass in der Guerrero etwas weniger Menschen anonym beigesetzt werden müssen. Die Chancen darauf haben sich durch eine langsam wirksam werdende Eigeninitiative glücklicherweise inzwischen stark verringert.

Nave Industrial abandonada


3. Verlassener Industriepark, 07. 04.
(alle Texte in gekürzter Fassung, copyright by Holger Roick)

Heute beginnt alles mit einem Traum. Ein Traum, in dem ich selber sterbe, und zwar gleich mehrere Male, obwohl manche sagen, dass dies nicht möglich sei. Man kann den eigenen Tod nicht träumen, behaupten sie.
Nun, mir ist dies heute nicht zum ersten Mal passiert. Allerdings war mein gleich mehrfacher Tod und der Umstand, nach jedem weiteren Sterben in der Haut eines anderen zu stecken etwas, was den heutigen Traum einzigartig gegenüber den früheren machte.
Den Tag zuvor hatte ich einen Kommentar in der Zeitung darüber gelesen, wie dramatisch die neuen Erfahrungen für die amerikanischen Soldaten im Irak sein würden, die kurz davor standen, Bagdad einzunehmen. Seit 150 Jahren wussten sie nicht mehr, was es bedeutete, „mit dem Bajonett zu kämpfen“, sprich: Mann gegen Mann!
Darum ging es in meinem Traum. Wie in einem Videospiel war ich ein ‚fighter’, unwichtig dabei, ob ‚der Gute’ oder ‚der Böse’. In den Hochhausschluchten einer anonymen Stadt versuchte ich, dem Gegner zu entkommen, den ich gleichzeitig aber auch jagte. Längst war die Angst, dabei hinterrücks umgebracht zu werden, unendlich viel grösser als die parallel dazu sich gleichermassen steigernde Mordlust. So gross war die Angst, dass es besser gewesen wäre, sich eine Kugel in den Kopf zu jagen und es damit endlich hinter sich zu haben, als weiter in einer solchen Panik und Verzweifelung wie von Sinnen vorwärts zu stürzen. „Weiter, weiter“ tobte es in mir, ohne zu wissen, wohin und warum! Hinter jeder weiteren Häuserecke war der Feind und damit der Tod zu vermuten. Dem Feind konnte es nicht anders gehen, also blieb nichts übrig, als hervorzupreschen und die nächste Maschinengewehrsalve blindlings loszufeuern. Wie im Videospiel der Daumen unablässig den Auslöser drückt war auch hier die einzigst denkbare Möglichkeit nur, lieber zu viel als zuwenig Munition zu verschiessen. Die ging glücklicherweise auch nicht zuende, es war schliesslich ein Traum und noch dazu ein Videospiel! Auch bei einer Invasion fehlt es nie an Munition.
Nach meinem ‚ersten Tod’ bemerkte ich, dass ich mich in einem halbwachen-halbschlafenden Zustand befand. Es gab für mich an diesem Punkt plötzlich die Möglichkeit, entweder ganz aufzuwachen oder den Traum weiterzuträumen. Ich weiss nicht warum, aber ich entschied mich für weiterträumen. Dadurch habe ich danach noch einige weitere Male meinen eigenen Tod erleben müssen. Allerdings waren nicht die in der Folge 'erlebten' weiteren Tode das eigentlich schreckliche Erlebnis des Traums, sondern die real erlebte Angst darin. Den Wahnwitz der Situation erkannt zu haben, aus der es jetzt keinen Ausweg mehr gab. Das nicht mehr grauenhafter vorstellbare Alleinsein jedes einzelnen Kämpfers, nicht nur mein eigenes, am eigenen Leib zu spüren, das war das wirklich Entsetzliche an dem Traum. Aber es war kein typischer Albtraum, bei dem man an einem bestimmten Punkt schweissgebadet aufwacht, sondern eine beinahe bewusst erlebte Unschlüssigkeit, entweder die lediglich ‚virtuell erlebte Realität’ wegen einer morbiden Neugier noch ein wenig länger auszudehnen oder dem keineswegs virtuellen Grauen endlich aktiv (durch Aufwachen!) ein Ende zu bereiten. Soviel zu meinem Traum.

Der Stadtkrieg in Bagdad hat begonnen. Der Stadtkrieg setzt sich nachts in meinem Kopf fort. Und auch am Tag. Der Krieg in der Stadt, so sieht er aus, wenn er noch ohne Soldaten geführt wird; so wie in dieser Fabrikruine, in der ich mich heute für eine Weile verstecke -zum Schreiben!

Von hier aus kann ich endlich einmal die vielen Graffitis ganz aus der Nähe und mit Zeit betrachten, die ich vorher schon so oft im Vorbeifahren bewundert hatte. Alle noch einigermassen intakten Gebäude und restlichen Mauern der ehemaligen Industrieanlage sind gespickt voll davon. So viele ungenutzte Mauern, ein Paradies für Sprüher. Besonders, weil das Gelände von der etwas oberhalb verlaufenden, stark befahrenen Strasse, bestens einzusehen ist. So wirkt es wie das übergrosse Schaufenster einer Galerie für Sprayer-Kunst. Natürlich ein Dorn im Auge des braven Bürgers. Deren Abscheu gegen den ‚Vandalismus’ der urbanen Künstler geht soweit, dass Belohnungen für das Ergreifen eines in flagranti mit einer Sprühdose Bewaffneten ausgesetzt werden. Nachbarn haben sich schon zu Vereinigungen gegen die Sprüher zusammengeschlossen.


Sicher teilen nicht viele meine Meinung, dass Graffitis unsere Metropolen im Grunde verschönern. Das beziehe ich auch nicht nur auf die kunstfertigsten der Beispiele, worin mir möglicherweise noch eine bestimmte Anzahl von Leuten zustimmen würde, sondern auf das Phänomen an sich, ohne spezielle Beachtung der Talentiertesten unter ihnen. Was mich fasziniert, ist das Zusammenspiel von einem immer alle Probleme gleichzeitig ansprechenden Protest und die beharrliche Inanspruchnahme eines Raumes dafür, der persönlichen Ausdruck ermöglicht, wo es sonst keine andere Gelegenheit dazu gibt. Auch wenn Graffiti ursprünglich Ausdruck des Protests jugendlicher Slumbewohner war, so ist dieser Aspekt dem einzelnen Sprayer heute oftmals gar nicht mehr bewusst. Dennoch ist er der Bewegung inhärent. Er liegt in der Eroberung der Räume begründet, was an Krieg erinnert. Es herrscht Krieg in allen grossen Städten der Welt, aber die Kämpfer sind unsichtbar. Sie schreiten nachts voran, wenn der Gegner schläft und hinterlassen ihre Spur, die, wenn sie entziffert würde, sagt: „Keine Zukunft? Dann bauen wir uns selber eine und sie wird euch nicht gefallen!“ Allein die Klarheit dieser einfachen Mitteilung, die nicht oder doch nur am Rande durch Inhalt, sondern durch Farbe, Form und flächendeckender Präsenz ausgedrückt wird, bereichert und verschönert mir die Stadt. Denn es ist mehr geholfen, wenn die dringendsten Probleme offen zum Ausdruck kommen, als wenn sie unter einem fett geschminkten Antlitz verborgen bleiben. Die grossen Städte sind Zeitbomben, die auch ohne organisierte Kriminalität oder ökologischem SuperGAU explodieren können. Ein zu grosser Riss zieht sich durch ihre Versprechungen und ihre wahren Möglichkeiten. Nicht ohne Grund verschanzen sich die (vorläufigen!) Gewinner immer öfters hinter noch höheren Mauern, in gepanzerten Wagen und mit persönlichem Polizeischutz.



Man sollte das, was im Grunde erst eine Kriegsankündigung ist, versuchen zu verstehen, um den drohenden Gewaltausbruch abzuwenden. Indes drängt man Sprayer in die Kriminalität. Anstatt ihnen das brachliegende Areal zur Verfügung zu stellen, was ein Zeichen gewesen wäre, setzt sich die Illegalität hier zwangsweise nachts fort. Hohe Stacheldrahtzäune sollen Unbefugte von dem Gelände fernhalten. Grund genug für Sprayer, dies als Einladung zu verstehen.
Schnell finde ich selbst zwei kleine Einstiegslöcher. Ich warte einen günstigen Moment ab, an dem gerade kein Passant vorbeikommt, um über die Mauer und das Loch im Zaun zu klettern. In wenigen Sekunden habe ich mich über die Hindernisse gehievt und tauche auf der anderen Seite eine zeitlang unter. So bin ich hier nun auch ein verbotener Eindringling. Ich mache mich auf den Weg über das unübersichtliche Gelände, durch ehemalige Hallen, halb zusammengestürzte Werkstätten und um inzwischen sinnlos isoliert dastehende, d.h. surreale Mauern herum. Ein riesiges Labyrinth, ganz das chaotische Szenario vom Krieg in der Stadt aus meinem Traum. Die Angst, entdeckt zu werden ist zwar nicht vergleichbar mit der Todesangst, die ich heute nacht gespürt hatte, erinnert mich aber trotzdem bei jedem Schritt daran, ein ‚Invasor’ zu sein. So schleiche ich mich auch eher mit einem mulmigen Schuldgefühl durch die Anlage.
Was natürlich so gar nicht in das noch immer sehr gegenwärtige Traumbild passen mag, sind die jeden Zentimeter ausfüllenden Graffitis auf den Wänden ringsum. In meinem Traum waren die Wände seltsam kahl und weil alles darin irgendwie gleich aussah, verstärkte sich das Gefühl, vollkommen orientierungslos zu sein. Die Nacktheit der Traumwände unterstrich die absolute Verlorenheit aber erinnerte durch den so entstandenen artifiziellen Charakter seinerseits auch daran, dass alles ja ´nur´ ein Videospiel war.


Im Gegensatz dazu ist das hier die absolute Realität.

Man kann Graffitis mögen oder hässlich finden, aber wo sie sich, wie hier, so häufen, dass die Gebäude (= ’Zivilisation’) unter ihnen vollkommen zu verschwinden drohen, passiert etwas Eigenartiges. Man stellt sich unweigerlich eine geheime, nächtliche Aktivität vor, die rituelle Versammlung eines mysteriösen Stammes, der sich zu einer verbotenen Zeremonie trifft. Tribalismus in einer Stadt, die Apokalypse und Avantgarde zugleich ist. Ein schöpferischer Akt, nachdem nichts mehr so bleibt, wie es einmal war. Das Ritual und die Spuren, die es hinterlässt, sind ein und dasselbe.

Iztapalapa


4. Iztapalapa, 15. 04.

(alle Texte in gekürzter Fassung, copyright by Holger Roick)

Zwei Dinge sind es, für die Iztapalapa berühmt ist. Die in jeder Hinsicht extrem chaotischen Lebensumstände in dieser mit über zwei Millionen Menschen meistbevölkerten Gemeinde der Hauptstadt, sowie die dort seit 160 Jahren stattfindenen Festspiele in der Osterwoche, an denen von über 4000 Akteuren die Viacrusis von Jesus nachgespielt wird. Noch eine dritte Sache ist in Iztapalapa herausragend, ‚el Faro’, der Leuchtturm, von dessen Existenz allerdings schon weitaus weniger Personen wissen und von dem später die Rede sein wird.

Die in zwei Tagen beginnenden Festspiele sind der Grund, warum ich mich heute ausgerechnet hierher begebe.

Seit Iztapalapa zu Beginn des 19. Jahrhunderts von der Cholera heimgesucht wurde und die Bevölkerung erfolgreich ihren Heiligen ´Seńor de la Cuevita´ anrief, sie von dem massenhaften Sterben zu befreien, wird ihm zu Dank und Ehren hier alljährlich diese spektakuläre Aufführung dargeboten. Am Karfreitag erreicht sie auf dem Sternberg (´Cerro de la Estrella´) mit der Kreuzigung Jesu ihren Höhepunkt. Dort kann man dann den Ausdruck von Schmerz und Traurigkeit in den Gesichtern der Schauspieler und gleichermassen bei gut 100 000 Zuschauern ablesen.
Am Karsamstag finden die Feierlichkeiten ihren Ausklang mit der Judasverbrennung. Riesige Pappmachéfiguren des Verräters werden unter grossem Gejohle den Flammen übergeben. Damit sollen in erster Linie die sieben Todsünden gebannt werden. Aber der Papierjudas steht gleichzeitig auch für die eigenen Sünden des vergangenen Jahres, die mit diesem Akt gesühnt werden sollen. Ein Brauch der, wie Hersteller aufgrund der rückläufigen Verkaufszahlen feststellen, vielleicht bald nur noch auf den grossen öffentlichen Veranstaltungen zu sehen sein wird, auf ein folkloristisches Detail reduziert.

Der Glaube an die Wirksamkeit derartiger Zeremonien lässt natürlich in demselben Grad nach, wie die allgemeine Bedeutung der Kirche, besonders für die junge Generation. Das ist in Mexiko aber weiterhin nicht viel und deshalb verwundert es nicht, dass diese streng religiöse Tradition ausgerechnet dort so grosse und nicht nachlassende Popularität hat, wo die Lebensbedingungen nach wie vor zu den schwierigsten gehören.
Im Osten der Hauptstadt gelegen gehört Iztapalapa zu dem Teil des ausgetrockneten Texcoco-Sees, der einen dreifach höheren Salzgehalt als das Meer hatte. Das trägt besonders zu dem heute beinahe wüstenhaften Charakter des Stadtgebiets bei, da hier aufgrund des salzigen Bodens nur bestimmte Pflanzen wachsen können. Das ökologische Desaster, unter dem der Moloch Mexico-City ohnedies leidet, spitzt sich dadurch noch weiter zu.
Ein seit vielen Jahrzehnten andauernder und weitgehend unkontrollierter, durch Landflucht ausgelöster Bevölkerungszustrom, bringt aber die grössten Schwierigkeiten mit sich. Immer knapper werdender Wohnraum hat hier zu 150 auf engstem Raum angesiedelten ´Unidades Habitacionales’ geführt, riesige Wohnkomplexe mit vielen tausenden Bewohnern, die hier ganz besonders das Bild des Stadtteils prägen.
1950 drehte Luis Buńuel ‚Los Olvidados’ (‚Die Vergessenen’) vor dem Hintergrund solcher damals hier aus dem Boden schiessenden Wohnsilos. Denn damals wie heute ist das Wohnproblem mit den Massensiedlungen nicht etwa gelöst und wild wuchernde Eigenbausiedlungen aus Wellblechhütten vervollständigen das Bild. Um den Film drehen zu können, schaute Buńuel sich sechs Monate in solchen Gegenden um. In Nonoalco beispielsweise und möglicherweise sogar eben hier, wo ich gerade stehe, denn schon damals galt Iztapalapa als das erste und grösste Auffangbecken für Neuankömmlinge.
Er wusste wohl, dass er mit dem Film auf einigen Widerstand stossen würde, da es vielen Mexikanern nicht recht sein konnte, dass solch’ ein Bild ihres Landes in der Welt gezeigt werden würde. Er setzte ihm deshalb einen erklärenden Text voran: „Die grossen modernen Städte, New York, Paris, London, verstecken hinter ihren prächtigen Bauten all’ die miserablen Unterkünfte, in denen unter übelsten hygienischen Umständen Kinder ohne Schulbildung leben, Brutstätten zukünftiger Krimineller. Die Gesellschaft versucht diesem Missstand abzuhelfen, aber der Erfolg ihrer Anstrengungen ist bescheiden. Erst in einer nahen Zukunft können die Rechte von Kindern und Jugendlichen einforderbar werden, welche sie zu nützlichen Elementen für die Gesellschaft machen. Mexico, die grosse moderne Stadt, ist sogesehen keine Ausnahme von dieser allgemeingültigen Regel und deshalb ist dieser Film, der auf Tatsachen des realen Lebens beruht, nicht optimistisch und überlässt die Lösung des Problems den fortschrittlichen Kräften der Gesellschaft.“



In den folgenden Jahren sollte sich daran nicht sehr viel ändern; im Gegenteil hat sich die Problematik in Iztapalapa durch die hohe Bevölkerungsdichte immer noch weiter verschärft. Die Probleme sind klar und immer die gleichen: Arbeitslosigkeit, Kriminalität, Alkoholismus, Drogenabhängigkeit, Prostitution, Kindesmisshandlung etc.
Die grosse Mehrheit der Bevölkerung sind Kinder und Jugendliche!
Man kann also polemisch sein und sagen, dass in Iztapalapa die ´Viacrusis´ nicht nur einmal im Jahr sondern täglich stattfindet und dies nicht nur für einen dazu ´Auserwählten´, sondern für jeden einzelnen seiner Bewohner.
Die schlimmen Zustände in Iztapalapa erreichten im Jahr 1997 ihren Höhepunkt, als darüber nachgedacht wurde, ob die Gewalt und Kriminalität dort mit der berüchtigten Staatspolizei, den Judiciales, oder mit dem Militär bekämpft werden sollte. Letzendlich war das eine Diskussion darüber, mit welchen Mitteln eine Invasion im eigenen Land zu bewerkstelligen sei!
1997 war aber gleichzeitig auch das erste Jahr, in dem in Mexico-City der Bürgermeister und seine neue Administration nicht autokratisch ernannt, sondern demokratisch vom Volk gewählt wurde. Hatte sich nach beinahe 50 Jahren vielleicht doch etwas von Buńuels Hoffnung auf die fortschrittlichen Kräfte der Gesellschaft erfüllt?



Ich laufe, von der Metrostation Acatitla kommend, durch die Wohnanlage ´El Salado´ und noch darüber nachsinnend stehe ich urplötzlich, bei Block A1-A3, schon direkt vor meinem Ziel, EL FARO. Das ist die Abkürzung für ‚Fabrik des Ostens für Kunst und Handwerk’, heisst aber gleichzeitig übersetzt auch ‚Der Leuchtturm’ und ist damit Symbol für das orientierende Licht, das im Osten (der Stadt) mit seiner Errichtung wegweisend sein soll. Seit drei Jahren, und damit exakt 50 Jahre nach Buńuel’s Film, leuchtet dieses Licht nun. Allerdings stand es zu Beginn diesen Jahres auf Messer’s Schneide, ob es weiter brennen oder bald erlöschen würde. Es gab angeblich mal wieder zu wenig Geld im Haushaltstopf und wie immer in solchen Fällen treffen Sparmassnahmen zuerst die Kultur.
Auf die Osterzeremonie in Iztapalapa näher einzugehen, ist in jedem Jahr möglich, ein Ende davon kaum abzusehen. Aber im kommenden Jahr noch über den Faro berichten zu können, ist also keineswegs so gewiss.

Das Gebäude des heute wohlangesehenen und von den Bewohnern Iztapalapas vollkommen akzeptierten Kulturzentrums erinnert zuerst an ein grosses Schiff, das hier vor Anker liegt. ‚El Faro’, der stilisierte Leuchtturm, ist das Symbol der Fabrik. Er überragt alles und erinnert ebenso an den Hafen wie das davorliegende Tribünenrund mit Blick auf die ´Kommandobrücke´dieses Schiffes. Das ganze ist umgeben von einem künstlich angelegten Damm, der mit den hier überlebensfähigen heimischen Pflanzen befestigt ist und das Ufer des ehemaligen Texcoco-Sees darstellen soll.
Von diesem Hafen läuft man auf grosse Reisen aus. Die Abenteuer, die dort zu bestehen sind, heissen: Bibliothek, Fotografie, Theater und Tanz, schreinern, schweissen, drucken, malen und bildhauern, gärtnern und ökologische Workshops, Papierherstellung.

Was hier besonders für Kinder und Jugendliche geleistet wird, kann gar nicht überbewertet werden. Leider sind Projekte wie ´El Faro´ immer wieder den politischen Kursschwankungen ausgesetzt. Dadurch ist ihre Existenz permanent bedroht. Im Moment kann man sich aber in Iztapalapa glücklicherweise ziemlich auf die ´fortschrittlichen Kräfte´, wie sie Buńuel angedeutet hat, verlassen. Mit ihrem Verschwinden wäre inzwischen dank der hervorragenden Akzeptanz und erstaunlicher Aktivitäten ein hoher politischer Preis zu bezahlen. Heute traut sich in Mexico kaum jemand, Massenkonzerte für Punks, Hip-Hopper, Raver etc. zu organisieren. Im Faro bedeutet dies -unter Ausschluss der Polizei (die muss draussen warten!)- für events mit 15 000 Jugendlichen seit drei Jahren kein Problem. Hausfrauen der Zone werden dafür eingesetzt, von denen die Jungen sich gerne nach unerlaubten Gegenständen abtasten lassen. Jeder scheint zu wissen, dass ein gewalttätiger Vorfall nicht nur das Ende der Konzerte, sondern die Schliessung des Faros heissen kann. So wundert man sich auch nicht lange über die Ordnung und Sauberkeit der gesamten Anlage und ihrer Installationen. Wo beispielsweise jeder zweite Besucher ein potentieller Graffiti-Künstler ist, sucht man hier vergeblich nach den achtlos wegschmissenen, leeren Dosen. Allerdings bleiben ihre Talente nicht ungenutzt. So ist das gesamte Gebäude gleich zur Eröffnung rundum von unzähligen Sprayern in einer ersten Aktion mit einem endlosen Wandbild versehen worden. Einzigste thematische Vorgabe: der ´Ajolote´! ´Axolot´ in Nahua, der Sprache der Azteken, so erklärt mir der Direktor Benjamin Gonzalez, ist eine bestimmte Salamanderart, die im Texcoco-See lebt und nur in Mexico niemals zur ausgewachsenen Form heranreift. Hier, und nur hier, bleibt diese Art zeitlebens Adoleszent. Noch ein weiteres Zeichen, das hier gesetzt wird, diesmal entlang der Mauern und bezeichnend für eine ewige Jugend, um die sich hier alles dreht. Ein Schriftsteller hat dazu einmal gesagt, dass Axolot ein Symbol für alle Mexikaner sei, die auf ihre besondere Art auch ewig Kinder bleiben.




Man möchte dies ausschliesslich im positiven Sinne verstehen. Es fällt dann schwer, wenn man wie ich auf der Rückfahrt in der Metro einen Jungen sieht, der auf allen Vieren durch den Waggon krabbelt, jaulend wie ein Hund, und mit Spucke und Lappen die blitzenden Schuhe der Büroleute putzt. Und dann, wenn er Pech hat, ebenso wie ein Strassenköter einen kurzen aber gezielten Tritt einstecken muss.




Während der Tage im Jahr, an denen Jesus’ Leidensweg in Iztapalapa aufgeführt wird, gilt für alle verbindlich: nicht töten, nicht stehlen, nicht vergewaltigen…..
Aber eine paktierte Woche reicht nicht aus, die vom christlichen Glauben verfochtenen Werte mit Leben zu füllen.
Die Erfahrung des Faro zeigt in jeder Hinsicht, wie es trotzdem funktionieren kann.

Panteón San Isidrio




5. Der Friedhof von San Isidrio, 23. 04.
(alle Texte in gekürzter Fassung, copyright by Holger Roick)

Die Regenzeit hat jetzt begonnen. Es hat zumindest den Anschein. Einige Wochen verfrüht zwar, aber andererseits gerade zum richtigen Zeitpunkt. Nach einem endlosen Dauerbeschuss mit Nachrichten von Tod und Sterben in der Wüste und den Städten Irak’s tut es zumindest dem Auge und damit der Seele gut, das wiedererwachende Leben zu registrieren. Nach monatelanger Trockenheit dauert es nur wenige Tage, bis alles wieder in vollem Saft steht. Sofort spriesst es überall in überschiessender Kraft und in Farben, an die man sich schon fast nicht mehr erinnerte. Das in dieser Höhe ganz ungewohnte, plötzlich einsetztende feucht-warme Klima gibt einem zumindest während der ersten Tage der Regenperiode das Gefühl, selbst Teil eines ‚sinnstiftenden’ Naturzyklus zu sein. Ein Mensch, der sich so wie ich jetzt mit einer Pflanze vergleicht, in die mit den ersten Regentropfen neues Leben fliesst, (bei mir passiert dies durch die dampfschwangere Luft, deren Geruch mich an das Tropische erinnert und mich ganz in ihren Besitz nimmt) wird in so einem Fall kaum von sinnvoll, sondern immer von sinnstiftend reden. Das unterscheidet ihn letztendlich von einer Pflanze und macht ihn zum Menschen.

Schon früh treffe ich mich mit Pepe, denn wir haben einen langen Rundgang vor uns und in wenigen Stunden wird es so heiss sein, dass an ein Weiterlaufen nicht mehr zu denken ist. Pepe ist ein guter Freund und Maler. Als wir uns vor nicht langer Zeit über Parres 52 unterhielten, machte er mir den Vorschlag, mich zu so einem ´Nicht-Ort´ zu führen, wie ich ihn brauche.
In seinen schlechtesten Zeiten war er Leichenwäscher bei der SEMEFO (Servicio Médico Forense = Gerichtsmedizinisches Institut) und die Arbeit dort hatte verständlicherweise einen tiefen Eindruck bei ihm hinterlassen. Doch war es weniger die Arbeit als die Schicksale, mit denen er dort täglich konfrontiert wurde. Besonders die grosse Zahl der Menschen, die irgendwo auf der Strasse anonym gestorben waren, erschütterte ihn. Das hatte seine Position geprägt, von der er mir aber erst auf dem Panteón San Isidro, dem Hauptfriedhof seiner Gemeinde Azcapotzalco, erzählen wollte. Für ihn war dieser Friedhof ein verabscheuenswerter Platz, eben weil er voll von jenen einsamen Toten aus der SEMEFO war und obwohl er selbst Verwandte dort liegen hatte. Ich war nun ebenso gespannt auf den Ort wie auf seine Erklärung dazu.

Der seit 1958 bestehende, mit über 30 Hektar inzwischen grösste Friedhof der Stadt, hebt sich durch eine verblüffende Besonderheit von anderen ab. Auf sich gegenüberliegenden Strassenseiten betritt man durch grosse Hauptportale zwei komplett voneinander getrennte Teile des Friedhofes. Durch das eine gelangt man zur ´Erwachsenenabteilung´, auf der anderen Seite zur Kindersektion. Das ist nicht etwa eine allgemein übliche mexikanische Tradition, sondern auch hier eher die Ausnahme. Es gibt zwar noch andere, aber insgesamt sind es nur sieben solcher Friedhöfe im ganzen Land.


Ein eigenartiges Gefühl begleitet mich, als wir uns zuerst dem Kinderfriedhof zuwenden. Was den Tod für mich auszeichnet, ist das Absolute an ihm, zumindest was die Lebenden betrifft. Was bis zu diesem Tag getan oder unterlassen, ausgesprochen oder verschwiegen wurde, ist nicht mehr zu revidieren. Aber auch, ob jemand reich oder arm war, mürrisch oder humorvoll, ist nun egal. Man ist sich gleich im Tod. Dieser alles nivellierende Charakter bezieht sich natürlicherweise ebenso auf Jung wie auf Alt. Deshalb wirkt es zunächst befremdlich, dass hier diese Nivellierung durch die Trennung geleugnet wird.
Selbstverständlich ist auch dies nur für die noch Lebenden von Bedeutung, sagt man sich, schon nicht mehr ganz so überzeugt davon, wie noch kurz zuvor.


Die kleinen Gräber sind sämtlich vollgestellt und behängt mit allen nur denkbaren Spielsachen. Ich glaube meinen Augen nicht zu trauen. Wir laufen nun schon eine ganze Weile die breite Hauptchaussee entlang und die Menge der Gräber nimmt immer noch weiter zu. Hunderte sind es, die durch ihre Vielfalt aber sogar den Eindruck von Tausenden erwecken. Etwa auf der Hälfte des Weges wird es noch bunter um uns herum. Man bekommt den Eindruck, auf einer Kirmes zu sein. Weitaus mehr Spielsachen befinden sich jetzt auf den Grabstätten. Auch sind sie neuer und noch nicht von der Witterung ausgebleicht, ein Zeichen dafür, dass hier die erst kürzlich verstorbenen Kinder bestattet werden. Diese frischen Gräber nehmen zu beiden Seiten der Chaussee den zentralen Platz auf dem Friedhof ein. Erst im hinteren Teil stossen wir dann wieder auf ältere Gräber.
Mittlerweile laufen wir kreuz und quer durch die Grabreihen, die Mehrzahl der Todesdaten
zeigt, dass die meisten Kinder nicht älter als ein Jahr waren.

Pepe muss plötzlich bemerkt haben, wie stark dieser Anblick auf mich wirkt. Bisher haben wir kaum ein Wort gewechselt. Bei einem überaus reichlich geschmückten Grab bleiben wir stehen. Was ich davon halte, fragt er mich unversehens. An darüber gespannten Leinen hängt alles voll mit bunten Luftballons. „Das erinnert eher an einen Kindergeburtstag“, meine ich und genau das ist es auch. Auf dem Grabstein lesen wir das noch nicht lange zurückliegende Geburtsdatum des Kindes.
Ich erkenne etwas wie Widerwillen in Pepe’s Gesichtszügen und dann fängt er plötzlich an zu erzählen; unverständlich zunächst und nicht so einfach nachvollziehbar für mich, auf was er eigentlich hinaus will.
Ob mir die vielen kaputten Gräber aufgefallen seien. Der chaotische, ungepflegte Allgemeinzustand des Friedhofs? Andererseits so etwas wie hier: keine Frage, „ein Riesenspektakel wird die Familie zum Geburtstag des Kleinen veranstaltet haben. Wer weiss, unter welchen Umständen das Kind seine Geburtstage zu Lebzeiten verbracht hat. Kein Geld für Geschenke, keine Zeit. Sicher kein so bombastisches Fest, wie vorgestern an diesem Platz…..“
Eine lange aufgestaute Wut scheint mit einem Male aus meinem Freund hervorzubrechen. Trotzdem meine ich, dass seine Hasstirade ungerechtfertigt ist. Was wissen wir schon davon, wie jene Geburtstage wirklich ausgesehen haben. „Soweit ich das beurteilen kann, werden Kindergeburtstage hier in der Regel doch immer recht grossartig gefeiert…..“

Aber der Einzelfall ist für Pepe natürlich belanglos. Es geht ihm um etwas anderes. Der Tod eines Onkels beispielsweise. Schon sterbenskrank wünschte er sich von der Frau sein Leibgericht. Eine Woche bat er vergeblich darum, dann war es zu spät. Seither kocht die Tante meines Freundes ihrem verstorbenen Mann wöchentlich jene Speise und verbringt ihre freie Zeit, wann immer es möglich ist, in der Kirche oder auf dem Friedhof. Jahrelang hatten sich die zwei nichts mehr zu sagen und auch die Leibspeise hatte der Onkel, zuhause zumindest, schon lange nicht mehr gehabt. Seit drei Jahren waren nun der Witwe einzigste Lebenskoordinaten: Küche, Kirche und Katakombe!

Dann die Geschichte eines noch nicht einmal zwanzigjährigen Freundes, für den dessen Familie bei den Verwandten keine 3000.- Pesos für die nötige Blinddarmoperation locker machen konnte und der dann starb, bevor der Vater selbst das Geld zusammengebracht hatte. Einer der Onkels, die man vorher vergeblich angepumpt hatte, spendierte einen Holzsarg für 5000.- Pesos!
Noch mehr Geschichten dieser Art erzählte Pepe mir an diesem Tag.

Natürlich haben sie alle mit Schuld zu tun, mit dem vergeblichen Ansinnen, Versäumtes wiedergutzumachen. Der grotesk dazu betriebene Aufwand, das Schuldgefühl loszuwerden, macht es schliesslich pathetisch. Das dies alles mit Religion und Glauben zusammenhängt, dem christlichen Glauben, weiss auch Pepe als Kirchenmitglied nur zu gut.

Als wir später auf die andere Seite zu den ´Erwachsenen´ hinüberwechseln, muss ich ihm Recht geben. Hier sieht es wirklich teilweise verheerend aus. Zusammengebrochene, möglicherweise gewaltsam aufgebrochene Gräber, viele grosse Haufen aus verwelktem Grabschmuck, die niemand zu entsorgen scheint und unter denen wir sogar einige Knochenreste finden. Der leicht süssliche Geruch lässt keinen Zweifel darüber aufkommen, wo wir uns befinden. Ratten huschen vor uns schnell unter umgefallene Grabsteine.
Rum- und Bierflaschen liegen überall verstreut herum, übrigens auch zwischen den Kindergräbern, wo es mir noch stärker aufgefallen war.
Wir setzen uns für eine Zigarette auf die Betonreste eines eingefallenen Grabes. Der Rauch vertreibt zumindest einige der Fliegen, die wir erst bemerken, als sie während des Sitzens über uns herfallen. Vor uns beobachten wir einen Vogel, der in einem der Abfallhaufen herumpickt und nach Pepe’s Meinung viel zu fett für die Spezies ist.

Das ist die andere Seite der Medaille, von der er mir nun erzählen will. Unser Sitzplatz zum Beispiel. Hier liegt jemand begraben. Gut vorstellbar, das es einer jener anonymen Toten ist. Den Grabresten nach zu urteilen auf jeden Fall jemand, den niemand vermisst. Er weiss, dass es widersprüchlich ist, was er nun sagt, denn gerade noch hatte er über jene gelästert, die erst etwas tun, wenn es zu spät ist. Hier handelt es sich aber möglicherweise um eine Familie, die nach dem Tod und dem Begräbnis mit ihrem Toten im Reinen war und keinen Anlass oder keine Möglichkeit mehr hat, die Grabstätte weiterhin aufzusuchen. Aber wieder war für Pepe der Einzelfall unerheblich. Die Schuld für eine solche Verwahrlosung läge auch oft beim Toten selbst, der zu Lebzeiten einfach nicht in der Lage gewesen war, etwas zu schaffen, was ihn darüber hinaus ehrwürdig machte, bzw. andere Menschen um sich zu sammeln, die ihn weiterhin in ehrbarer Erinnerung behalten würden. Ein nutzloses und weggeworfenes Leben.


Das schien mir alles noch sehr undurchsichtig. Ich beginne, ihm von einem neuen mexikanischen Film mit dem seltsamen Titel ‚JAPAN’ zu erzählen, indem ein Mann mittleren Alters, allem Anschein nach ein Maler, die Grossstadt verlässt, um sich in einem einsamen und kargen Gebirge das Leben zu nehmen. Gewiss kein Mann, der es sich nur einfach macht. Auch niemand, der vor dem Leben flüchtet. Im Gegenteil bereit, sich ihm Angesicht zu Angesicht zu stellen -dem Leben wohlgemerkt, gerade wegen seiner Bereitschaft, es sich zu nehmen. Jemand, der in einem winzigen Rucksack, nur für das Nötigste in seinen letzten Tagen, trotzdem Platz genug für einen voluminösen Bildband über moderne Kunst hat, und der zu diesen notwendigsten Dingen ausserdem einen Walkman zählt, um in grösster mexikanischer und endgültigster persönlichster Abgeschiedenheit Johann Sebastian Bach zu hören. Das ist kaum jemand, meine ich, dem etwas unbewusst zustösst. Auch ist kaum vorstellbar, dass er immer oder schon lange allein war. Eine denkbare innere Einsamkeit bleibt davon unbetroffen. Damit wäre dieser Mensch kein Einzelfall, sondern eher die Regel. Demgegenüber ist sehr gut vorstellbar, dass es Menschen gibt, die ihn nach seinem Verschwinden vermissen werden. Von seinem Tod wissen sie vielleicht nichts, auf jeden Fall erspart er ihnen, vielleicht auch sich selbst, jede in dieser Hinsicht mögliche Heuchelei. Was auch immer der Grund für seine radikale Entscheidung sein mag spürt man als Zuschauer unweigerlich, dass sie etwas mit einem sehr grossen Respekt vor dem Leben zu tun hat, selbst wenn ein gewisser Ekel davor eine zusätzliche Rolle spielen mag.

„Eben darum geht es“, meint Pepe. Es sei doch gerade das, was ihn so fürchterlich auf die Palme bringe. „Das Kind geht zum Brunnen, bis es fällt.“ Warum besinnen sich die Menschen immer erst, wenn es schon zu spät ist? Oder besinnen sie sich überhaupt? Es ist doch der Tod, der glorifiziert wird, der aber gleichzeitig, wie einem hier auf dem Friedhof San Isidro anschaulich bestätigt wird, keinerlei Transzendenz hat.
Bei den Tarasken-Indianern beispielsweise, wo Pepe Kinder -und Jugendjahre bei einer Adoptivfamilie verbracht hat, sei das grundlegend anders. Bevor sein Ziehvater starb, den er davor mehrere Jahre nicht gesehen hatte, bestellte dieser ihn an sein Totenbett für den sogenannten ‚ajuste de cuentas’, die Begleichung offenstehender Rechnungen. Ebenso tat er es mit seinem leiblichen Sohn, von dem er anschliessend verlangte, Musiker zu bringen, zu deren Spiel er ihm die ganze Nacht über vorsingen sollte. Das war die Übereinkunft, die sie bei ihrem Gespräch getroffen hatten. Im Morgengrauen starb der Vater schliesslich.
Den Dingen gerade ins Gesicht schauen und sie alle rechtzeitig in Ordnung bringen. Niemanden etwas ewig nachtragen, keinen Grund für Schuldgefühle haben und auch keinen Anlass dazu geben, kurz: „das Leben vor dem Tod leben!“

Als Pepe etwas früher gehen muss und ich mich noch einmal alleine auf den Teil des Friedhofs begebe, der für die Erwachsenen reserviert ist, überlege ich, das seine anfänglich so konfus erscheinende und widersprüchliche Logik sich mir jetzt durchaus zusammenreimte.

Auf meinem Weg komme ich nicht weit. Es ist bereits weit über Mittag und das jetzt drückende Klima hat den Effekt, dass der süsse Kadavergeruch inzwischen allgegenwärtig und unerträglich geworden ist. Ich muss würgen und drehe schnell um, erst an dem Blumenstand vor dem Haupttor atme ich wieder tief durch.


Seltsam, dass es auf dem Kinderfriedhof überhaupt nicht riecht…..

Hier hat man den massenhaften Tod auf jeden Fall nicht so ganz im Griff. Und wo man den Tod nicht im Griff hat, kann man vom Leben auch nicht viel mehr erwarten.

Ist es nicht dasselbe, was hier im Kleinen und im Irak momentan in einem unbeschreiblichen Ausmass geschieht? Alle Kräfte und Gelder werden mobilisiert, um eine möglichst gründliche Zerstörung herbeizuführen, nur um danach noch mehr Kräfte und Gelder zu mobilisieren für die Wiederherstellung der angerichtete Schäden. Allerdings ist es dazu dann schon zu spät.

Tepito




6. Tepito, 29. 04.

(alle Texte in gekürzter Fassung, copyright by Holger Roick)

“Frag’ nicht lange und steig’ schon ein!“, sagt der Fahrer des Kleinbusses zu dem Jungen. Der balanciert auf einem grossen Tablett verschiedenfarbige Wackelpuddinge in den Bus, die er für eine Selbsthilfegruppe von Arbeitslosen für einen Peso das Stück an die Passagiere verkauft.
Nur selten wird man Zeuge einer so entschiedenen Haltung. Kaum einem dieser Verkäufer wird zwar jemals die kostenlose Mitfahrt verwehrt, aber die freundliche Frage um Erlaubnis darum gehört trotzdem zum guten Ton. Mit seiner klaren Aussage erteilt unser Chauffeur zwei wichtige Lektionen; eine erteilt er uns, die wir ihm zuhören konnten, und die andere dem Verkäufer: „in diesen Zeiten ist Solidarität kein Recht, sondern eine Pflicht“ – und: „du hast ein Recht auf Solidarität!“

Tepito, Endstation in einem der ältesten, traditionellesten und zur Zeit wahrscheinlich gefährlichsten Barrio des Distrito Federal. ‚Barrio bravo’, das wilde Viertel ist seit jeher sein Name und mit 35 Morden in diesem Jahr nach Aussage der Regierungssprecher der höchste jemals erreichte Durchschnitt in der Geschichte der Hauptstadt. Deshalb wurde es kürzlich auch offiziell zum gefährlichsten Ort des Landes erklärt. Sechs Mordfälle gab es allein in der letzten Woche. Die Regierenden haben dem Stadtviertel -mal wieder- den Krieg angesagt. Die Polizeipräsenz wird auf 550 Elemente verstärkt, neue Spezialeinheiten sollen für Ruhe und Ordnung sorgen. Der Einsatz des Militärs ist im Gespräch. Dafür sind Gesetzesänderungen auf dem Weg, Razzien sowieso immer schon an der Tagesordnung.

Die Bewohner von Tepito, auch Tepis, Tepiscoloyo oder Tepistock genannt, formieren sich mal wieder -auch das nichts neues- um ihr geliebtes Barrio zu verteidigen. Stadtregierung und Tepis stehen wie immer auf Kriegsfuss, und man fragt sich, wie lange eigentlich schon.
Zu Zeiten der Aztekenherrschaft, noch lange vor der Ankunft der Spanier, wurde hier auf der ‚Plaza de Troque’, was sich von ‚trueque’ ableitet und Tauschhandel bedeutet, abseits der offiziellen Markt- und Handelsplätze des alten Tlatelolco um gebrauchte und minderwertige Waren gefeilscht. Seit diesen Zeiten ist der Ort bei den Autoritäten verrufen. Die Ordnungshüter hatten niemals wirkliche Kontrolle über die vielfältigen Betrügereien, Raube oder Morde, die hier seit hunderten von Jahren passierten. Die Bewohner waren immer schon trickreicher gewesen und konnten so den Verfolgern in den meisten Fällen schadlos entkommen. Der wahre Grund dafür war aber wahrscheinlich der, dass es meistens gar keine Verfolger gab, denn diese trauten sich erst gar nicht in die Gegend.
Tepito ist demnach par exellence das wilde Viertel. Hier werden Gebrauchtwaren und wiederaufgearbeitete Produkte verkauft, Plagiate, Schmuggelware, Waffen, und Drogen. Hier findet man alles, was man wünscht, wenn man nur die richtige Person auf diskrete Art anzusprechen weiss. Man sagt, es gäbe nichts, was man in Tepito nicht käuflich erwerben könnte, ausser einen Tepis. Was im ersten Anlauf nicht zu finden ist, wird garantiert besorgt, in den meisten Fällen unverzüglich.
Von dem riesigen Polizeiaufgebot, manchmal wird selbst von bis zu 3500 Männern geredet, ist nicht viel zu sehen. Jede Reform ist bisher in Tepitos unnachgiebigen Strassen gescheitert. Das Stadtviertel verdankt seine andauernde Existenz dem zähen Widerstand seiner Bewohner gegen jeden von aussen gerichteten Versuch, die Verhältnisse dort zu ändern.

Stolz ist man dort, Mexikaner zu sein, aber als ein Geschenk Gottes gilt es, gebürtig aus Tepito zu sein. Die alte Tradition setzt sich bis heute ungebrochen fort. Erwartungsgemäss findet man ‚mezcamocha’, ein aus den Resten vornehmer Restaurants zubereiteter Eintopf, heute wie damals gleichfalls in den kleinen öffentlichen Küchen feilgeboten…
In Tepito lebt beinahe jede Familie vom Handel. Die Zahl der Verkaufsstände geht in die Hunderte oder gar in die Tausende. An einem normalen Arbeitstag, das sind sämtliche Wochentage ausser Dienstags, muss man sich hier durch ungeheure Menschenmengen von Stand zu Stand schieben. Nach offiziellen Angaben besuchen durchschnittlich 350 000 Personen täglich diesen Strassenmarkt, einen der grössten des Landes.
Dienstags jedoch ist ‚Ruhetag’, aber nur, was die Verkaufstätigkeit betrifft. Ansonsten herrscht überall allergrösste Geschäftigkeit. Wenn die Menschenmassen ausbleiben gibt es Gelegenheit, das Viertel zu säubern, die Böden zu schrubben und Plastikplanen zu erneuern. Stände werden repariert, Häuser gestrichen und moderne Dachkonstruktionen für den Markt installiert. All´dies wird in nachbarschaftlicher Hilfe zu Wege gebracht und aus eigener Tasche finanziert. Damit soll der Stadtteil verschönert werden, um der sich immer weiter verschärfenden offiziellen Antipropaganda gegen Tepito entgegenzuwirken. Viele Anwohner halten es für einen Rufmord, der momentan an ihrem Stadtteil begangen wird. So ist ein eindeutiger Verkaufsrückgang in den ersten Monaten des Jahres zu verzeichnen, just die Zeit, in der sich die Situation extrem zugespitzt hat. Von mehreren Seiten wird beteuert, dass die Morde der letzten Wochen gar nicht in Tepito passiert sind, sondern in der Colonia Morelos und den angrenzenden Stadtteilen.

„El jarocho“, 60 Jahre, 51 davon in Tepito: „Die Schiessereien finden zwischen konkurrierenden Banden statt und die erschossenen Personen sind deren Abrechnungen. Aussenstehende bleiben davon in der Regel unbetroffen! Ausserdem ist unser Stadtteil klar abgegrenzt durch die Avenida del Trabajo, Canal del Norte und Venustiano Carranza. Den Verlauf dieser Grenzen sollten sich die Stadtväter mal ganz genau hinter die Ohren schreiben, denn das meisste ist in diesem Jahr bisher nicht hier, sondern in der Colonia Morelos passiert. “





Das soll nicht etwa heissen, dass eben dies in Tepito nicht vorkommt. Natürlich ist der Verkauf von illegal eingeführten Waren auch hier an der Tagesordnung, ebenso wie der Drogen- und Waffenhandel üblich ist. Aber diesen Teil übernehmen einige darauf spezialisierte Banden, die mehrheitlich mit dem Wissen und unter dem Schutz der Polizei agieren. Die grosse Mehrzahl der Menschen in Tepito arbeitet hart und hat mit der Gewalt nichts zu tun. Das kann sich aber natürlich schnell ändern, dann nämlich, wenn von behördlicher Seite weiterhin alles, was in der Gegend mit Gewalttaten und Illegalität in Zusammenhang steht, den Leuten aus Tepito in die Schuhe geschoben wird. Dann ist hier nämlich jeder bereit, auf den Druck der Polizeigewalt mit derselben Sprache zu antworten, um die Arbeitsplätze und damit das gesicherte Auskommen zu verteidigen.
Tatsächlich gibt es wahrscheinlich im ganzen Land keinen Ort mit einer geringeren Arbeitslosenquote, einer nicht von Regierungsseite getürkten Zahl, die hier gut und gerne an die 100%-Beschäftigungsrate heranreicht.

Fernando, 38 Jahre, in Tepito geboren, Schulabbrecher: „Im Barrio findet jeder Arbeit, wenn er wirklich will. Jeder hat zumindest ein Familienmitglied, der ihm sofort welche verschaffen kann. Unsere Chancen ausserhalb des Barrios sind seit jeher schlecht gewesen. Das liegt zum Teil an uns selbst, weil wir oftmals nicht die notwendigen Papiere vorlegen können, um auf einer weiterführenden Schule angenommen zu werden. Zum anderen steckt dieses Land aber auch in einer permanenten Krise. So scheinen wir einen Stempel der Aussätzigkeit auf der Stirn gedruckt zu tragen, denn wo es nur wenig Arbeits- und Studienplätze zu verteilen gibt, haben wir regelmässig das Nachsehen. Da werden Leute aus anderen Wohngegenden uns gegenüber klar bevorzugt. Mit diesem Wissen und dieser ständig wieder gemachten Erfahrung brechen viele von uns ihre Schulausbildung vorzeitig ab. „Wozu?“, fragen sie sich und noch am selben Tag sind sie in dem Geschäft eines Verwandten oder Freundes untergekommen. Tepito bietet jedem, der hier wohnt, eine Sicherheit, die er nirgendwo sonst erreichen würde. Vom wirtschaftlichen Aspekt her kann man sich eine gute Existenz aufbauen, was für Menschen unseres Standes und unserer Bildung in den weitesten Teilen Mexiko’s sonst unvorstellbar ist. Um zu überleben muss man sich aber ständig aktualisieren und immer flexibel bleiben. Auch muss man schlau und manchmal sogar hinterlistig sein, um im Geschäft zu überleben. Aber das sind die Leute in Tepito natürlich. Mir gefällt das. Jahrelang habe ich Kleider verkauft. Mittlerweile leben und arbeiten im Barrio aber mehr als 6000 Koreaner, die haben das Geschäft mit der Kleidung jetzt in der Hand. Deren Familienverbände sind straffer organisiert als bei uns und so übertrumpfen sie einen Einzelhändler sehr schnell. Dagegen kann man nur standhalten, wenn man etwas sehr ausgefallenes anzubieten hat. Das ist bei Kleidung momentan nicht mehr möglich. Die Koreaner decken in dieser Hinsicht inzwischen alles ab. Als ich eingesehen habe, dass ich in diesem Sektor nicht mehr lange überleben würde, bin ich auf Musik umgestiegen. Das taten viele in demselben Moment, so habe ich mich auf zwei Musikrichtungen spezialisiert. Aber die Fans des einen Stils pöbelten die des anderen an und deshalb bin ich jetzt nur noch mit World-Music vertreten. Es läuft ganz gut, aber wer weiss wie lange noch, bevor ich mir wieder was neues einfallen lassen muss. Über diese Tätigkeit bin ich dann auch selbst zum komponieren von einzelnen Stücken gekommen. Das ergab sich wie eine notwendige Konsequenz aus der Arbeit. Zuerst am Computer, inzwischen direkt an einem profesionellen Mischpult. Vielleicht kann man meine Musik ja bald mal bei Tecno-Geist, der mexikanischen Love-Parade, hören. Von mir selbst als D.J. präsentiert. Daran arbeite ich. Aber selbst wenn ich anderswo Erfolg haben sollte, werde ich das Barrio unter keinen Umständen verlassen. Hier ist die ganze Familie, alle Freunde, meine ganze Geschichte. Den Verkaufsstand würde ich als letztes aufgeben; er bedeutet für mich und für uns alle hier die tatsächliche Unabhängigkeit.“

Es ist nicht verwunderlich, dass das Barrio ein Dorn im Auge der Stadtregierung ist. Das Zusammenleben- und arbeiten funktioniert hier nach eigenen Regeln und in vielerlei Hinsicht besser, als ausserhalb. Die so gewonnene Autonomie der Zone, in erster Linie vom etablierten Warenmarkt, ist subversiv und muss deshalb bekämpft werden. Es könnte ja jemand auf die Idee kommen, das Modell zu kopieren...
Die vielen Interessengruppen der Händler von Tepito haben oftmals unterschiedlichste Auffassungen, wie die Angriffe auf sie am besten zu kontern seien. Alle diese Gruppen vereint aber ihr gemeinsames Hauptinteresse, die Verteidigung ihrer Lebensgrundlage. Hierbei stehen sie wie ein Monolith solidarisch zusammen. Niemand verteidigt die Illegalität, aber in einer 20:80%-Gesellschaft werden Raubkopien verständlicherweise als ein legitimer Wirtschaftszweig betrachtet!




Ich habe aus zwei Gründen einen Dienstag für meinen Besuch gewählt; zum einen ist es der einzigste Tag, an dem man hier ‚klar sehen’ kann, immerhin sind dann 350 000 Menschen weniger unterwegs, zum anderen wegen der auf heute angesetzten öffentlichen Versammlung der Gruppenchefs.

Alicia, Mitte fünfzig, Chefsekretärin der Gruppe ‚Verteidigung und Solidarität’, Standbesitzerin für ausländische Zigarettenmarken: „Wir sind heute mal wieder unter stärkstem Beschuss der regierungshörigen Medien nach den letzten Mordfällen. Aber das ist wie immer total ungerechtfertigt. Hier gibt es eine Schlägerei und das Fernsehen macht daraus dann mindestens einen Toten. Kaum jemand hat bisher in den Medien von Tepito’s anderer Seite gesprochen. Zum Beispiel von unserem Nachbarschafts-Dienstag. Für die Versammlung heute haben wir extra diesen Hintergrund gewählt, denn das Treffen der Gruppenführer ist ihnen eine Nachricht wert und deshalb ist heute das Fernsehen hier. Vielleicht zeigen sie ja auch etwas davon. Kaum anzunehmen allerdings… wir haben die Reporter wirklich teilweise satt.
Hier gibt es gleich ein Theaterstück für Kinder. Danach werden Lebensmittelpakete gratis an Bedürftige verteilt. Jeder kann Dienstags zur kostenlosen ärztlichen Untersuchung kommen oder sein Haustier impfen lassen. Daneben haben wir Rechts- und Zivilberatung, einen Notar, alles kostenfrei.
Wenn Tepito anarchisch ist, wie so oft behauptet wird, dann ist es aber eine sehr geregelte Anarchie, was ja eigentlich gar nicht sein kann. Auf jeden Fall haben wir hier einiges, das zu verteidigen sich lohnt!“



Felipa, 65 Jahre, Gruppenchefin, 13 Kinder, alle in Tepito geboren: „Meine 13 Kinder sind gesund und munter. Alle haben Arbeit, hier in Tepito, und Armut oder Misere hat niemand von ihnen jemals erleiden müssen. Schon deshalb wissen wir, was uns hier hält und das wir unter allen Umständen das Viertel, so wie es ist, verteidigen müssen. Dazu kommt, dass es hier auch immer noch ‚Miga’ gibt, ein mit einem grossen Stück Schweinefleisch gefülltes und in einer Kräutersauce getunktes Brötchen. Das findet man sonst in Mexico fast nirgends mehr. Ein weiterer Grund, nicht zu gehen (lacht schallend)….. Hermelinda (andere Gruppenführerin) könnte dir jetzt weitere Argumente anführen, aber bei ihrer Wortwahl würdest du einen roten Kopf bekommen!“




Das hier die Kirche zwar auch eine wichtige aber eine dem Handel untergeordnete Rolle spielt wird offensichtlich, als ich vergeblich nach dem Vorplatz suche. Was ich für eine Mauer halte, die diesen umgeben könnte, ist schon das Kirchenschiff selbst. Rundherum ist die Parroquia San Francisco de Asis Tepito von Verkaufsständen eingekesselt. In ihrem Inneren fällt mir zuerst die endlose Liste der Spender für anstehende Renovierungen auf. Von einigen tausend bis zu gerade mal zehn Pesos Spendengeld ist jeder einzelne Spender namentlich darauf aufgeführt.





So wie viele Kolumbianer sagen, dass es zum grossen Teil der Drogenmafia zu verdanken ist, im Land jetzt mehr Schulen und gut ausgerüstete Krankenhäuser zu haben, bekommt man auch in Tepito vielerorts den Eindruck, es mit einer Mafia zu tun zu haben. Die zwischen den Ständen geduldete Kirche ist nur ein Beispiel dafür, dass die gesamte Gemeinde in den verschiedensten Angelegenheiten zusammensteht. Wollte man Tepito in dieser Hinsicht also ernsthaft mit kolumbianischen Verhältnissen vergleichen, müsste man sich zwangsläufig des offiziellen Regierungsvokabulars bedienen und ihr Recht geben, dass sie den Kampf dort gegen eine Mafia führt. Aber dann wäre es eine Mafia, in der alle Capos und gleichzeitig Nutzniesser der mafiösen Struktur sind. Profiteure von so gewünschten Lebensumständen in einem gleichermassen dynamischen und traditionellen Werten verbundenen Barrio, die unter ‚legalen’ Bedingungen oftmals nicht annähernd erreicht werden.
Sich dessen sehr wohl bewusst, wird der Verteidigungskampf der Tepis, der gleichzeitig ein Kampf um die Würde ist, ebenso fortschrittlich wie traditionell geführt. Im Internet finden sich so, neben den komerziellen, hunderte weiterer Einträge, welche die historische, kulturelle, soziale und politische Besonderheit des Ortes hervorheben. Neben diesem modernen Medium verlässt man sich in Tepito aber noch stärker auf eine andere, eher mittelalterlich anmutende Taktik. Und diese ist tatsächlich nur an einem Dienstag angemessen zu erkennen. Erst durch ein kilometerweites, verwirrendes Labyrinth leerer Stände gelangt man in das Herz von Tepito. Es fällt einem an den verkaufsoffenen Tagen nicht weiter auf, an denen man sich nur von Stand zu Stand weiterschieben lässt. Aber dorthin, wo die Tepis leben, zu den vecindades mit ihren langen Innenhöfen, gelangt man gar nicht, bzw. man würde es nicht ohne weiteres bemerken. Unzählige Strassenzüge und Gassen mit heute verwaisten Ständen bilden rund um die in ihrem Zentrum gelegenen Wohnhäuser, wo sich Tepito vom Krämermarkt zum Dorf verwandelt, einen regelrechten Schutzwall. Ich frage mich, ob ich aus diesem Gewirr jemals wieder herausfinden werde. Genauso schwierig muss es für jeden Invasor sein, hier überhaupt erst einmal hineinzukommen. Nichts leichter, als jeden möglichen Eindringling in Sekundenschnelle durch das öffnen und schliessen bestimmter Zufahrtswege abzuwehren.

Bilde ich es mir nur ein oder ist es wahr? Was bislang den Eindruck eines rein politischen Machtspiels auf mich gemacht hatte, rechnet schon längst auch mit realen Kriegsstrategien.